Leseprobe  "DER PLOT"

 

 

Teil 1

 

Der Auftrag

 

1.  Nächtlicher Stierkampf

 

Der alte Volvo bog von der Hauptstraße ab, sein Lichtkegel streifte ein stählernes Tor. Dahinter tauchte die Silhouette eines grauen Gebäudes auf, die sofort wieder mit der Dunkelheit verschmolz. Die Scheinwerfer beleuchteten einen Weg, der auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt war. Ihre verzweigten Äste bildeten ein Gewölbe, das den fahlen Schein des Halbmondes nur durchschimmern ließ. Das Fahrzeug fuhr den Weg hinunter und parkte vor dem Sportstudio. Der Fahrer stieg aus, nahm eine Sporttasche vom Rücksitz und warf einen Blick auf die gläserne Tür. Im Innern brannte Licht, einige Fitnessbesessene trainierten noch.

Sein Auto  fiel hier nicht auf. Er schwang die Tasche über die Schulter und ging den Weg zurück, den er heruntergefahren war.

Heute Abend ist es so weit.

Er schlich am Tor vorbei, das von Kameras überwacht wurde. Im Lichtschein, der durch die geöffnete Eingangstür auf die Einfahrt  fiel, erspähte er den Umriss einer dunklen Limousine. Die Innenbeleuchtung des Fahrzeugs erlosch, als der letzte Insasse die Tür zuschlug. Drei Männer betraten das Gebäude.

Ich muss mich beeilen!

Außer Reichweite der Kameras hastete er den Weg zur Hauptstraße hinauf, an zwei eisernen Brücken vorbei, die einen Graben entlang der Straße überquerten. Dem ehemaligen Altersheim hatten sie als Fluchtwege gedient, jetzt endeten sie an einem Zaun. Stacheldraht war zwischen den Spitzen der nach innen gekrümmten Pfosten gespannt.

Die sollen verhindern, dass man hier ausbricht.

Nach etwa hundert Metern bog er von der Straße ab und rannte eine Wiese hinunter ins Tal.

An der Stelle, wo der Zaun in den Wald abknickte, ging er in die Hocke. Mit einer Kneifzange knipste er einen Streifen in den Maschendraht, den er hochklappte.

Aus der Sporttasche nahm er den schwarzen Overall mit Kapuze und zog ihn über. Eine Dämmung mit innenseitiger Alukaschierung verhinderte, dass die Körperwärme nach außen abstrahlte. Mit einem Stoßgebet, dass die Infrarot-Bewegungsmelder an der Gebäudeaußenwand ihn nicht erfassen möchten, robbte er durch die Öffnung. Sekundenlang verharrte er, bereit, sofort zurückzukriechen. Kein Strahler  flutete das Gelände.

Er atmete durch, kroch weiter. Im Schutz des Gebäudes richtete er sich auf und schlich an der Wand entlang zum einzigen Fenster, dessen Lichtstreifen am Rand verriet, dass der Raum dahinter benutzt wurde. Er heftete ein mit Saugnapf versehenes Mikrofon an die Scheibe, steckte sich den Stöpsel ins Ohr. Er ließ sich aufs Gras sinken, schaltete das Aufnahmegerät ein und lehnte sich gegen die Wand.

Hoffentlich bin ich nicht zu spät!

Eine Tür öffnete und schloss sich, gefolgt von Schrittgeräuschen. Stühle wurden geschoben. Geflüster erstarb, als die Tür erneut geöffnet wurde. Anscheinend der Hausherr, denn es folgte eine kurze Begrüßung, bevor Ruhe einkehrte.

Der Lichtstreifen erlosch. Am Lichtflackern erkannte er, dass drinnen ein Film vorgeführt wurde.

Mist. Ein Stummfilm!

Nach wenigen Minuten erschien der Lichtspalt wieder, der Film war zu Ende.

Jemand räusperte sich. »Das war der Auftritt von Doktor José Delgado in der Stierkampfarena von Córdoba. Wie Sie gesehen haben, bekämpfte er den Stier mit einem Handsender. Er ließ ihm vorher Elektroden in die Amygdala einp anzen, den Bereich im Zwischenhirn, worin das Hass- und Liebeszentrum liegen. Sehr nah beieinander, nebenbei bemerkt, meine Herren!«

Anscheinend wartete der Redner auf eine Lachsalve, doch keiner der Anwesenden tat ihm den Gefallen.

»Sie haben gesehen, dass der Stier wütend angriff und dann plötzlich abdrehte, was sich einige Male wiederholte. Wie hat Delgado das geschafft? Mit dem Sender schwächte er die Aggressivität des Tieres über die ... nennen wir sie Liebeselektrode ab, so dass es den Angriff stoppte, und stimulierte sie wieder über die Hasselektrode.«

Den Worten folgte ein Flüstern der Gäste.

»Meine Herren, darf ich Sie daran erinnern, dass Delgados Stierkampf 1965 stattfand.«

Der Redner legte eine Pause ein, bevor er weitersprach.

»Ich werde Ihnen zeigen, weshalb ich Sie heute Abend eingeladen habe ...«

Jetzt wird es interessant!

Draußen unter dem Fenster drückte der Lauscher den Stöpsel fester gegen das Ohr. Je länger geredet wurde, umso kälter wurde ihm. Und das lag nicht an der plötzlich gefallenen Außentemperatur Ende September.

Plötzlich fiel der Ton aus. Das Mikrofon lag im Gras.

Der Saugnapf hat sich gelöst!

Er richtete sich auf, um ihn wieder an der Scheibe zu befestigen. Im gleichen Moment wurde der Vorhang zur Seite geschoben, ein Mann starrte auf ihn herunter.

Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte er, dann schaltete sein Gehirn auf Flucht. Er wirbelte herum, rannte davon. Hinter ihm wurde das Fenster geöffnet.

»Halt! Stehen bleiben!«

Scheinwerfer tauchten das Gelände in grelles Licht.

Dann  fielen Schüsse.

 

 

2.  Ultimatum

 

»Du gehst heute nicht auf die Messe!«

Max sah Jennifer an.

Da fehlt nur noch »... oder es passiert was!«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Willst du mir etwa sagen, dass du nicht weißt, was für ein Tag heute ist?«

Max stocherte in seinem Gedächtnis nach dem Grund, weshalb Jennifer sich so aufregte. Er sah aus dem Fenster zum wolkenverhangenen Oktoberhimmel.

»Kein schöner Tag. Aber genau richtig, um zur Buchmesse zu fahren. Warum regst du dich so auf? Du willst doch sowieso nie mit.«

Jennifer schnaubte.

»Heute ist unser Hochzeitstag, Max. Der zehnte, um genau zu sein.«

Max ́ Gesicht fing an, zu glühen.

»Das habe ich glatt vergessen«, flüsterte er.

Schweigen.

»Weißt du Max, das Traurige ist, dass ich von vornherein gewusst habe, dass du es vergisst. Und dass ich es immer noch nicht wahrhaben will, dass dir nichts mehr an mir ... an uns liegt.«

»Aber Jenny, das ist doch Unsinn.«

»Nein, das ist die Wahrheit. Seit der Sache mit dieser Reporterin vor fünf Jahren. Da hätte ich es eigentlich wissen müssen.«

»Das war doch nur eine kurze Affäre, mir ging es damals nicht gut, das weißt du. Darüber haben wir uns ausgesprochen.«

»Mag sein, aber jetzt ist Schluss, ich mach das nicht mehr mit!«

Das hört sich nach einem Ultimatum an!

»Wie, jetzt ist Schluss, wie meinst du das?«

»Wenn dir heute dein Tag auf der Buchmesse wichtiger ist als unser Hochzeitstag, dann war es das für mich. Schluss, Ende! So meine ich das.«

»Aber Jenny ... Ich habe einen wichtigen Termin. Einen sehr wichtigen sogar. Ein Verleger will mich kennenlernen, hat mich sogar eingeladen. Das ist eine Riesenchance!«

»Riesenchance, dass ich nicht lache! Wenn ich an alle deine Riesenchancen denke, die du mir die letzten Jahre präsentiert hast ...«

Die unausgesprochenen Worte hallten wie ein Echo von den Wänden zurück.

Jennifer legte noch eine Schippe drauf. »Schau dir dein Arbeitszimmer an, Max. Die Wand vor deinem Schreibtisch, die du mit den vielen Absagen der letzten Jahre zugekleistert hast. Das ist doch purer Masochismus! Warum tust du das? Was willst du dir damit beweisen?«

»Dass ich nicht aufgebe. Wie Abraham Lincoln ...« Weiter kam er nicht.

»Ach nein, nicht schon wieder diese Leier! Der Mann, der Jahr für Jahr unermüdlich versucht hat, zum Präsidenten gewählt zu werden, bis es irgendwann klappte! Ich kann es nicht mehr hören. Du bist Lehrer, hast einen Job, kannst jederzeit in deinen Beruf zurückkehren und wieder Geld verdienen.«

»Ich hatte ein Burn-out, Jenny, schon vergessen?«

»Das ist fünf Jahre her. Du wolltest es unbedingt mit Schreiben versuchen. Wir hatten damals eine Abmachung: Falls es nach fünf Jahren nicht klappt, mit der Schreiberei Geld zu verdienen, kehrst du in deinen alten Beruf zurück. Es sind jetzt sechs Jahre her, und du machst nicht den Eindruck, dich an die Abmachung halten zu wollen. Deshalb ziehe ich jetzt die Reißleine.«

Die Echos verstummten. Max wartete auf das, was kommen würde.

»Wenn du jetzt zur Buchmesse fährst, zieh ich aus!«

Sie verschwand im Schlafzimmer und schlug die Tür zu.

 

 

3.  Schwarzer Drache

 

Gewitterwolken verdunkelten den Himmel über Frankfurt, als der Shuttlebus vom Parkhaus am Rebstock mit einem Ruck vor der Messehalle 9 zum Stillstand kam. Gleichzeitig mit dem Zischen der Türen fuhr ein Blitz nieder, gefolgt von einem krachenden Donner und dem Stakkato der vom Himmel stürzenden Regenmassen. Die Insassen nützten eine Unterbrechung des Regenschwalls, um fluchtartig den Bus zu verlassen. Sofort bildete sich ein Stau an den Glastüren.

Der Regen nahm wieder an Heftigkeit zu.

Max wartete, bis die letzten Passagiere ausgestiegen waren. Er zog den Mantelkragen über den Kopf und rannte zum Eingang. Obwohl er nur kurz dem Schauer ausgesetzt war, fühlte es sich an, als sei er bis auf die Haut durchnässt.

Er durchquerte den Vorraum mit den Kassen, an den Besucherscharen vorbei, die sich vor den Schaltern aufreihten. An der Eingangskontrolle lächelte ihm eine Hostess zu und las die Eintrittskarte mit der Aufschrift ›Modric Verlag‹ mit dem Scanner.

Erneut warf er einen Blick auf die Karte, die ihm zugeschickt worden war. Er hatte gestaunt, nachdem er den Umschlag geöffnet und die Einladung gelesen hatte. Das Staunen wuchs beim Nachforschen im Internet: Was wollte ein wissenschaftlicher Verlag von ihm, einem unbekannten erfolglosen Krimiautor?

Der Verlagsinhaber wolle ihn persönlich treffen, hieß es im Begleitschreiben.

Er dachte an die Auseinandersetzung mit Jenny. Auch er glaubte nicht wirklich, dass etwas aus der Riesenchance werden konnte.

Eine Gruppe von farbenprächtig kostümierten Jugendlichen hastete aufgeregt gestikulierend an ihm vorbei. Cosplayers – er schmunzelte, jedes Jahr gab es mehr von ihnen.

Unten im Foyer der Halle 4 weckte eine Gruppe Messebesucher seine Neugierde. Ihm blieb noch Zeit bis zu der Verabredung und er fuhr die Rolltreppe hinunter. Eine Schar Menschen hatte sich um einen Jugendlichen in einem schwarzen Drachenkostüm versammelt. Drohend drehte sich der Drache um die eigene Achse, den Kopf auf und ab bewegend, als überlegte er, welchen der Zuschauer er zuerst verspeisen sollte. Die Flügel mit nahezu vier Metern Spannweite schlagend, trieb das Ungeheuer seine Beute im Kreis um sich herum. Plötzlich fixierte er Max, trat einen Ausfallschritt auf ihn zu. Die Schwingen wollten ihn einfangen. Max wich zurück, stolperte.

Die Umstehenden lachten.

Er sah auf seine Armbanduhr. Der Drache hatte ihn die Zeit vergessen lassen. Nur noch Minuten verblieben bis zum vereinbarten Termin.

 

Schwer atmend erreichte er den Stand des Modric-Verlags. Unzählige Exemplare der Neuerscheinung eines Autors namens Wladimir Voronin zogen Max ́ Blick auf sich. Seine Augen huschten von den Büchern über die Namensschilder der Standmitarbeiter, auf der Suche nach Modric, dem Verleger.

»Herr Delius, nehme ich an?«

Max fuhr herum. Vor ihm stand ein hagerer, kräftiger Mann in einem scharf gebügelten grauen Anzug, der ihn mit durchdringendem Blick musterte. Eine Wolke von aufdringlichem Aftershave umhüllte ihn. Ein Kribbeln fuhr Max über den Rücken, als er ihm in die dunklen Augen sah.

»Oh, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Der Mann reichte ihm eine klamme Hand: »Rupert Modric.« Er sprach es aus wie ›Modritsch‹ und fügte grinsend hinzu: »Nicht zu verwechseln mit einem britischen Medienmogul mit ähnlich klingendem Namen.« Er neigte den Kopf zu der korpulenten Person mit Halbglatze und Hornbrille neben ihm, den er um einen Kopf überragte. »Darf ich vorstellen: Doktor Wladimir Voronin, einer meiner wichtigsten Autoren.«

Der Angesprochene nickte lächelnd und reichte Max die Hand. »Angenehm, Sie kennenzulernen. Leider muss ich auch schon gehen. Auf Wiedersehen Herr Delius, ... Rupert.« Mit einem Kopfnicken verschwand er in der Menschenmenge.

Modric zeigte auf einen Tisch am Stand. »Setzen wir uns. Darf ich Ihnen einen Sekt anbieten?« Er winkte einer Hostess, die kurz darauf zwei Gläser brachte. Modric hob das Glas.

»Auf die Literatur.«

Max trank einen winzigen Schluck. Er hatte kaum gefrühstückt und wollte sich vom Sekt nicht benebeln lassen. »Vielen Dank für die Einladung, Herr Modric. Ehrlich gesagt habe ich mich darüber ein wenig gewundert. Wie sind Sie auf mich gekommen? Ich schreibe Kriminalromane, Sie publizieren so viel ich weiß wissenschaftliche Werke.«

Der Verleger lächelte. »Die Zeiten ändern sich, Herr Delius. Das große Geld lässt sich mit wissenschaftlichen Büchern allein nicht verdienen. Obwohl ich mit Autoren wie Doktor Voronin überaus glücklich bin. Wir haben gerade sein neuestes Werk herausgebracht. Waren Sie zufällig bei der ARD-Veranstaltung vorhin?«

Max verneinte.

»Schade, dann hätten Sie mitbekommen, dass sehr kontrovers über das Buch diskutiert wurde, was uns natürlich freut.«

Max hob die Brauen. »Das verstehe ich nicht so ganz, um ehrlich zu sein.«

»Kontroverse Diskussionen über ein Buch bringen den Autor ins Rampenlicht und steigern ganz nebenbei den Umsatz. Das sollten Sie sich für die Zukunft merken, Herr Delius.«

Eine kurze Pause, dann kam der Verleger zurück zum Thema. »Ich habe beschlossen, eine Belletristiksparte aufzumachen. Dazu benötige ich neue Autoren. Ehrgeizige Autoren. Autoren wie Sie.«

»Aber ich habe noch nichts veröffentlicht, bis auf ein paar selbst publizierte E-Books.«

»Ich weiß. Das spielt im Moment keine Rolle. Den Rest erkläre ich Ihnen in einer etwas gemütlicheren Umgebung. Darf ich Sie zum Mittagessen einladen? Ich kenne hier ein ruhiges Restaurant.«

Max, der die Buchmesse jedes Jahr besuchte, stutzte. »Ruhig? Hier, auf der Messe?«

Modric lachte verschmitzt. »Etwas für Eingeweihte.« Er hob eine Aktentasche vom Boden und stand auf. »Trinken Sie Ihren Sekt aus, Herr Delius.«

 

 

4.  Der Richtige

 

Je näher die Laufbänder sie zum Torhaus führten, umso ruhiger wurde es um sie herum. Ein lautstark telefonierender Japaner kam von hinten das Band herauf gelaufen und Max trat beiseite, um ihn vorbei zu lassen. Dabei bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Anfang des Laufbandes. Jemand huschte hinter ein paar stehende Personen. Im nächsten Augenblick stellte Modric ihm eine Frage und er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Verleger.

In der Torhauspassage öffnete Modric die Tür zu einem Treppenhaus. Sie fuhren mit der Rolltreppe ins Stockwerk darunter. Ein Hinweisschild mit der Aufschrift: ›Restaurant Fontana‹ zeigte auf eine Glastür.

Der Verleger öffnete die Tür. »Hier entlang.« Schwarze, im weißen Boden eingelassene Quadrate führten sie in die scheinbar endlose Tiefe des Flures hin zu einer leicht gerundeten Ausgabetheke, wo sie ihre Menüs wählten. Modric zahlte.

Mit den Tabletts in den Händen betraten sie einen mit Spiegelwänden versehenen Raum, der einem Lichthof glich. Tageslicht fiel auf die in einem Schachbrettmuster verlegten Marmorplatten, in denen sich das Chrom der Tische und Stühle spiegelte. Max kam es vor, als schwebte er im Zentrum eines von M. C. Escher gezeichneten, sich in allen Richtungen endlos fortsetzenden Universums.

Modric wählte den Tisch in der Mitte des Raumes neben dem Brunnen, aus dem Wasser in ein Marmorbecken plätscherte.

Sie setzten sich. Der Verleger machte keine Anstalten, ein Gespräch anzufangen und Max, der vor Neugier fast platzte, bemühte sich, seine Aufregung nicht zu zeigen.

Sie aßen schweigend. Erst nachdem sie die Teller weggeräumt und sich einen Cappuccino geholt hatten, ergriff Modric das Wort.

»Sie wundern sich also, wie ich auf Sie gekommen bin?«

»Wie ich bereits sagte, ich frage mich, was Sie von einem unbekannten Krimiautor wollen.«

»Unbekannt heißt nicht unbegabt, Herr Delius. Sie sind begabt. Ich habe mehrere ihrer Krimis gelesen. Was und vor allem wie Sie schreiben, gefällt mir. Sie beschreiben Mordanschläge so exakt, dass man als Leser das Gefühl bekommt, man verübe sie selbst. Das gelingt nur wenigen Autoren. Ja, ich bin überzeugt, dass Sie der Richtige sind.«

Max stutzte. »Der Richtige für was?«

Modric trank einen Schluck. Behutsam, fast andächtig, stellte er die Tasse zurück auf den Tisch. Seine Augen fixierten Max.

»Dafür, einen Bestseller zu schreiben.«

Das magische Wort. Aus dem Mund eines Verlegers!

»Das verschlägt Ihnen die Sprache, was? Ja, Sie haben richtig gehört: Sie sollen einen Bestseller schreiben.«

Max merkte, dass Modric seine Reaktion sehr genau studierte. »Aber ... mit allem Respekt ... einen Bestseller ... kann man nicht planen.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein und konzentrieren Sie sich auf das Schreiben. Das Zeug dazu haben Sie. Einen Verleger ebenfalls. Alles, was Sie noch brauchen, ist ein guter Plot. Und den ...«, Modric griff in die Aktentasche und schob Max einen dicken DIN-A4-Umschlag zu, »... den habe ich bereits für Sie erstellt. Damit Sie sofort mit dem Schreiben anfangen können. Bevor Sie fragen, weshalb ich das Manuskript nicht selbst verfasse: Erstens fehlt mir die Zeit, zweitens will ich nicht als Autor im eigenen Verlag erscheinen und drittens ... können Sie das als Krimiautor wohl besser als ich.«

Max versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Einerseits widerstrebte es ihm, eine Geschichte zu schreiben, die er sich nicht selbst ausgedacht hatte. Anderseits bot sich hier die einmalige Chance, endlich ein gedrucktes Buch bei einem richtigen Verlag heraus zu bringen.

Er zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich meine, auf der Grundlage eines fremden Plots zu schreiben. Ich ...« Weiter kam er nicht.

»Schauen Sie, Herr Delius, es ist ganz einfach: Sie wollen endlich publiziert werden, ich gebe Ihnen die Gelegenheit dazu und mache Umsatz mit dem Buch. Das nennt man ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Oder, auf Neudeutsch: eine Win-Win-Situation. Außerdem ist es in der Branche durchaus üblich, dass ein Autor ein Manuskript nach einer Idee seines Verlags verfasst.«

Als Max immer noch zögerte, beugte sich Modric zu ihm. »Ich zahle Ihnen einen Vorschuss von fünfundzwanzigtausend Euro. Auf ein Honorar von zwanzig Prozent des Verkaufserlöses versteht sich.«

Er lehnte sich zurück.

Verblüfft ließ Max die Zahlen auf sich wirken: Fünfundzwanzigtausend Euro? Zwanzig Prozent Honorar?

Er merkte nicht, dass er die Worte flüsterte. Zwanzig Prozent waren weit mehr als sonst in der Branche üblich. War das ein Traum? Er blinzelte. Seine Mutter und später auch Jennifer hatten ihn immer als Träumer bezeichnet. Er ahnte, dass es eine Kehrseite der Medaille geben musste.

»Das scheint zu schön, um wahr zu sein. Wo liegt der Haken?«

»Es gibt keinen Haken, Herr Delius. Aber wenn Sie nicht wollen ... Es gibt drei weitere Autoren in Lauerstellung, die sich um den Auftrag reißen werden.«

Auch wenn Modric bluffte, wusste Max, dass es für den Verleger eine Kleinigkeit war, Autoren zu finden, die dieses Angebot mit Freude akzeptieren würden. Unwillkürlich musste er an den Streit mit Jennifer denken. Sie hatte gedroht, ihn zu verlassen, wenn er nicht bald ordentlich Geld verdiente.

Er beschloss, sich erst einmal die Unterlagen schicken zu lassen. Das würde ihm einige Tage Bedenkzeit verschaffen.

»Okay. Schicken Sie mir den Vertrag zu.«

Modric lächelte, griff in seine Aktentasche und legte einen zweiten Umschlag auf den Tisch.

»Den habe ich bereits vorbereitet, Herr Delius. Ich werde Ihnen daraus die wichtigsten Bedingungen nennen.«

Bevor Max etwas erwidern konnte, las Modric aus dem Dokument vor:

»Erstens: Sie halten sich genau an den Plot. Er darf unter keinen Umständen geändert werden. Zweitens: Sie schicken mir jedes fertige Kapitel per E-Mail zu. Wenn Sie innerhalb eines Tages nichts von mir hören, schreiben Sie weiter. Drittens: Sie verpflichten sich zu absolutem Stillschweigen über unsere Vereinbarung und den Plot. Viertens und am Allerwichtigsten: Das Manuskript muss bis zum fünften Dezember dieses Jahres fertig sein. Wegen der Bearbeitungs- zeit für die Publikation. Das Buch soll auf der Leipziger Buchmesse erscheinen, die im kommenden Frühjahr statt ndet. Wenn Sie zehn Seiten am Tag schreiben, kommen zwischen dreihundertfünfzig und vierhundert Seiten zusammen. Sie sind jung, Sie schaffen das.«

Beim nächsten Satz drang der scharfe Blick des Verlegers wie ein Dolch in Max ein.

»Verstoßen Sie gegen eine dieser Bedingungen, ist der Vertrag hinfällig und der Vorschuss ebenso. Wenn Sie so wollen, sind das die Haken, die Sie befürchtet haben. Die sind zu verkraften, meinen Sie nicht?«

Max schluckte. Vierhundert Seiten in knapp zwei Monaten! Anderseits: Womit sonst sollte er die Zeit herumkriegen? Und schnelles Geld war ihm sicher. Sein Ehrgeiz gewann die Oberhand über die Vorbehalte.

»Einverstanden. Ich mache es.«

Modric schob den zweiten Umschlag zu Max herüber und erhob sich.

»Lesen Sie den Vertrag bitte in aller Ruhe durch. Dann unterschreiben Sie. Ich hole mir noch einen Kaffee. Wollen Sie auch einen?«

Max schüttelte den Kopf. Seine Tasse hatte er vor Aufregung erst zur Hälfte getrunken. Aufgewühlt wie schon lange nicht beugte er sich über den Vertrag.

Er zwang sich, das Schriftstück aufmerksam zu lesen. Bis auf die vier Bedingungen entsprach er den Anforderungen, die er aus dem Internet kannte. Was konnte schon schief gehen?

Er unterschrieb die beiden Ausfertigungen.

Modric kehrte zurück. Er nickte zufrieden, setzte die eigene Unterschrift darunter und steckte ein Exemplar in die Aktentasche. Aus dem Jackett fingerte er ein Kuvert, das er Max reichte.

»Hier sind zwölfeinhalbtausend Euro als Anzahlung auf den Vorschuss. Den Rest bekommen Sie nach Fertigstellung des Manuskripts. Nach der Publikation erhalten Sie natürlich das Honorar nach Abzug des Vorschusses. Wenn alles gut geht, sind Sie bald Millionär.»

Ohne hineinzuschauen, steckte Max das Kuvert in die Tasche. Modric sah auf die Uhr, leerte seine Tasse und erhob sich als Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Er reichte Max die Hand. »Auf gute Zusammenarbeit, Herr Delius. Ich freue mich darauf.«

Max sah in die grauen Augen des Verlegers, konnte in ihnen beim besten Willen kein Anzeichen von Freude erkennen. Er schaute seinem Auftraggeber hinterher, bis dieser um die Ecke verschwunden war. Dann lehnte er sich zurück. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass er soeben einen Vertrag für die Produktion eines Bestsellers unterschrieben hatte! Das musste er erst einmal sacken lassen. Er stand auf und holte sich einen frischen Cappuccino.

Zurück am Tisch öffnete er den dicken Umschlag, nahm den Stapel loser Blätter heraus und begann zu lesen.

 

 

5.  Jagdinstinkt

 

»Ist dieser Platz noch frei?«

Max zuckte zusammen. Einige Seiten  atterten auf den Boden. Einen Moment lang starrte er verdutzt in ein Paar blau schimmernde Augen.

Chiara! Was macht die hier?

Er warf einen Blick auf den Presseausweis, den sie um den Hals hängen hatte.

»Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Er löste sich aus seiner Starre. »Entschuldige, nein ...«

»Heißt das: nein, nicht frei?«

Er winkte in den menschenleeren Raum. »Wie du siehst, sind alle anderen Tische belegt.«

Sie lächelte, bückte sich und sammelte die heruntergefallenen Blätter vom Boden auf. Sie warf einen kurzen Blick darauf, da riss er sie ihr aus der Hand.

Chiara hob die Brauen und legte ihre Tasche ab. »Du bleibst noch ein paar Minuten hier?« Mit einer Handbewegung zum Papierstapel fügte sie hinzu: »Hast noch einiges zu lesen, wie ich sehe. Ich hole mir in der Zwischenzeit was zu trinken.« Sie ging zur Theke und kehrte mit einer Tasse Espresso zurück. Die Schriftstücke waren verschwunden.

Sie setzte sich Max gegenüber und warf die Haare nach hinten. »Was wollte Modric von dir?«

Sie kennt den Verleger?

»Warum interessiert das die Presse?«

Sie nippte an der Tasse. »Weil die Presse zufällig mitbekommen hat, dass er dir vorhin einige Umschläge gab. Drei waren es, wenn ich mich nicht täusche. In einem befand sich ein Dokument, das du unterschrieben hast. Wenn zwischen einem Autor und einem Verleger Dokumente unterschrieben werden, handelt es sich meistens um Verträge.« Sie lächelte. »Oder etwa nicht?«

Er lehnte sich zurück.

»Das geht dich nichts an.«

Ihr Blick verdunkelte sich. Sie beugte sich zu ihm, stemmte die Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn auf die verschränkten Hände. »Vielleicht doch?«

Auch Max beugte sich vor, bis ihre Gesichter sich fast berührten. »Du bist uns gefolgt. Das warst doch du, die sich auf dem Laufband plötzlich versteckt hat?«

»Das hast du richtig erkannt. Als ich dich mit Modric sah, wurde ich neugierig. Der Modric Verlag publiziert nur wissenschaftliche Bücher. Ich war vorhin auf dem Stand der ARD bei der Vorstellung des neuesten Buches eines seiner Autoren. Aber du schreibst Krimis. Also fragte ich mich: Was will er von dir? Als er dir dann auch noch dicke Briefumschläge gab und zum Schluss ein schmales Kuvert aus der Innentasche, weckte das meinen Jagdinstinkt.«

Max kannte Chiara von ihrer kurzzeitigen Affäre vor fünf Jahren. Sie würde keine Ruhe geben, bis sie alles in Erfahrung gebracht hatte. Er beschloss, sie mit ein paar Informationen zu füttern, die nah an der Wahrheit lagen. Das sollte die Vereinbarung mit Modric nicht gefährden.

Er lehnte sich zurück. »Modric will seinen Verlag neu ausrichten, mehr Belletristik. Er hatte im Internet um Bewerbungen gebeten, ich schickte ihm ein Exposé mit Leseprobe. Es gefiel ihm, er lud mich auf die Messe und zum Mittagessen ein, gab mir einen Vertrag.«

»Das ging aber schnell. Und gleich eine Anzahlung dazu?«

Ihr Blick zeigte, dass sie ihm kein Wort glaubte.

»Über welches Thema schreibst du? Ein pseudo-wissenschaftliches? Depressionsbewältigung für erfolglose Autoren vielleicht?«

»Tut mir leid, Chiara, aber zu diesem Thema fehlt mir die nötige Erfahrung. Nein, ich schickte ihm meinen neuesten Krimi. Er gefiel ihm. Das ist alles.«

Ihre Augen erforschten seinen Blick, auf der Suche nach Anzeichen, die ihn als Lügner entlarven würden. So oft, wie er sie damals belogen hatte, musste sie darin geschult sein. Anscheinend fand sie nichts, denn sie leerte die Tasse und stand auf. Das Interesse an ihm schien erloschen. Vorerst.

»Freut mich für dich, Max. Mach ́s gut.« Sie drückte ihm einen  üch- tigen Kuss auf die Stirn, drehte sich um und verließ das Restaurant.

Er sah ihr nach.

Ein besserer Abschied als das letzte Mal.

 

 

6.  Zettel

 

Max verließ die Messe. Es hatte aufgehört zu regnen, sogar die Sonne zeigte sich wieder. Im Rebstock-Parkhaus stieg er in den roten Saab, öffnete zuerst das Verdeck, dann das Kuvert. Er zählte das Geld: fünfundzwanzig Fünfhunderteuroscheine. Der Verleger musste großes Vertrauen in den eigenen Plot besitzen, um eine so hohe Anzahlung zu leisten. Dazu in ihn, den unbekannten Schrift- steller. Er steckte die Scheine zurück in den Umschlag. Bevor er den Motor startete, rief er Jenny an. Mailbox. Er klappte sein Handy zu, ohne darauf zu sprechen.

Als er aus dem Parkhaus herausfuhr, blendete ihn das grelle Licht der tief stehenden Sonne. Er bremste, um sich eine Sonnenbrille aufzusetzen. Hinter ihm hupte es. Er hob die Hand zur Entschuldigung und fuhr los. Unterwegs auf der A66 dachte er an das Gespräch mit Chiara. Sie hatte ihm nicht verraten, wieso sie ein solches Interesse an Modric hegte. Und weshalb war sie so angriffslustig gewesen? Er schob den Gedanken beiseite. Sie hatte es damals bereits verstanden, Geheimnisvolles mit verletzender Geradlinigkeit zu mischen. Fast hätte er ihr alles erzählt. Dann hätte sie aber den Plot lesen wollen. Das wäre peinlich geworden, wusste er doch selbst nicht, um was die Geschichte handelte.

Da fiel ihm ein, dass er Modric auch eine Bedingung hätte stellen können: Das Recht, den Plot zurückzugeben, falls dieser ihm absolut nicht zusagte. Er zuckte die Schultern, dann wäre auch die Anzahlung hinfällig geworden ...

Seine Gedanken wanderten zu Jennifer. Warum stritten sie sich immer wieder über das gleiche Thema? Natürlich gab er ihr im Stillen recht. Die E-Books warfen nicht genug ab, er müsste entweder mehr publizieren, oder einen vernünftigen Verlag  nden ... einen Bestseller schreiben ...

Jetzt besaß er endlich den heiß ersehnten Auftrag, dazu einen saftigen Vorschuss! Damit wäre der Streit vorerst wohl beendet. Vielleicht sollte er heute Abend für sie kochen. Nein, besser noch, sie zum Essen einladen. Als Wiedergutmachung. Er drehte das Radio auf und ließ einen Freudenschrei los.

Es hatte wieder angefangen zu regnen. Er parkte den Saab in der Tiefgarage und schloss das Verdeck. Der Platz neben ihm, wo Jennifers Golf für gewöhnlich stand, war leer.

Er betrat das Gebäude über den Hintereingang, stieg die Treppe hoch in den dritten Stock, öffnete die Tür.

Stille.

Er hängte den Mantel auf, die Jacken von Jennifer fehlten. Im Schlafzimmer lagen noch die zurückgeschlagenen Decken.

Warum hat sie die Betten nicht gemacht, das tut sie doch immer?

Er zog das Jackett aus, öffnete den Schrank. Jennifers Hälfte war fast ausgeräumt.

Ein Windstoß rüttelte am Fenster. Draußen nahm der Sturm an Heftigkeit zu.

Sie hat ernst gemacht!

Er schlich in die Küche. Ein Zettel lag auf dem Esstisch:

 

Max,

Ich bin ausgezogen, wie ich dir heute Morgen angekündigt habe. Wohne vorübergehend bei einem Freund, bis ich eine eigene Bleibe habe. Ich komme die Tage vorbei, um den Rest meiner Sachen zu holen.

Vielleicht bringt dich das endlich zum Sinneswandel.

Mach ́s gut,

Jennifer.

 

Er las die Zeilen ein zweites Mal, dann fiel seine Hand schlaff hinunter, der Zettel flatterte auf den Boden.

Sie war zu einem Freund gezogen. Es konnte sich nur um diesen Jörg handeln, einen Arbeitskollegen, den sie ab und an traf. Rein beruflich, wie sie immer betonte.

Und Lena? Er eilte in ihr Zimmer, atmete auf. Alles schien noch da zu sein. Es hätte ihm das Herz gebrochen, wenn auch sie fort gewesen wäre.

Aber das konnte ja noch passieren. Dieser Jörg besaß eine geräumige Wohnung am Stadtrand von Frankfurt, da gab es genug Platz für sie und Lena.

Er griff zum Telefon, wählte ihre Nummer.

»Hi.«

»Hallo Lena. Hat dir Jennifer gesagt, dass sie ...«

»Ja.«

»Was hat sie sonst noch gesagt?«

»Dass sie zu Jörg zieht.«

»Und was ist mit dir?«

»Weiß noch nicht. Bleib erst mal da.«

»Wo ist da?«

»Na, bei dir.«

Er schwieg. Was sollte er seiner Tochter auch sagen? Dass es ihm leidtat, dass ihre Mutter ihnen davongelaufen war?

»Lena, es ... es tut mir leid.«

»Ist okay, Papa. Muss jetzt Schluss machen. Bis später.«

»Ja, bis später«, sprach er ins bereits stumme Telefon. Die Trennung ihrer Eltern schien sie kaum zu beeindrucken.

Er starrte ins Leere. Kein Abendessen, keine Feier. Warum musste sie ihn ausgerechnet im Moment seines bisher größten Erfolges verlassen? Er wählte ihre Nummer. Immer noch die Mailbox. Mit einem Seufzer legte er auf. Dann würde er nur mit Lena feiern. Mit ihr zur Pizzeria, denn er hatte nichts eingekauft.

So ein Mist! Er brauchte jetzt ein Bier.

Er öffnete eine Flasche, setzte sie an die Lippen und trank sie halb aus. Es gelang ihm nicht, an etwas anderes zu denken, immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu Jennifers Brief, vor allem zu den letzten Zeilen:

Vielleicht bringt es dich endlich zum Sinneswandel.

Er schüttelte den Kopf. Ein Sinneswandel allein würde keinen Unterschied machen. Nur ein regelmäßiges Einkommen würde das tun. Hatte er dazu nicht gerade den Anfang gemacht?

Er verbrachte den Rest des Nachmittags damit, den Plot zu studieren. Wie die Geschichte aufbauen? Die zündende Idee kam nicht, er konnte sich nicht konzentrieren. Der Sturm draußen und die Gedanken an seine gescheiterte Ehe lenkten ihn zu sehr ab.

Um neun war Lena immer noch nicht zu Hause, er begann, sich Sorgen zu machen. Hatte sie nicht ›bis später‹ gesagt? Bei nächster Gelegenheit würde er mit ihr eine Definition für ›bis später‹ vereinbaren. Er wärmte ein paar Reste aus dem Kühlschrank auf, aß ohne Appetit. Zog sich aus und kroch ins Bett.

Erst als der Sturm sich in den frühen Morgenstunden legte, schlief er endlich ein.

 

 

7.  Der Patient

 

Rolf Kramer wollte weg. Endlich raus aus dieser Klinik. Die Therapie sei erfolgreich verlaufen, hieß es. Der Doktor hatte versprochen, dass er es schaffen würde, sein Trauma zu überwinden. Er hatte sein Versprechen gehalten. Die Erinnerungen an die fürchterlichen Geschehnisse waren jetzt weggesperrt in die tiefste Kammer des Unterbewusstseins. Daraus sollten sie nie mehr ausbrechen, hatte er sich geschworen.

Ein neues Leben beginnen!

Natürlich kannte er das Risiko, der Therapeut hatte ihn gewarnt: »Was du einmal an Grausamkeit erlebt hast, kannst du zwar verdrängen, aber du wirst es nie mehr los. Doch im Gegensatz zu früher kannst du es kontrollieren, es beherrschen.«

Die Stimmen. Die Kommandos. Ab und zu hörte er sie noch. Sie kamen im Traum, mal geschrien, mal geflüstert.

Wie auch immer, keine Gedanken an die Vergangenheit mehr. Einen Job suchen, eine Frau finden, Familie gründen! Er betrachtete sich im Spiegel: ein Mann Anfang vierzig, gut aussehend, noch im besten Alter. Solche Einschätzungen von sich selbst hätte er früher nie gehabt. Spiegel? Die gab es für ihn und seine Kameraden nicht. Man schaute einander auch nicht ins Gesicht. Zumindest nicht lange genug, um darin zu entdecken, worüber nie geredet wurde.

 

»Guten Morgen, Rolf«, riss ihn die bekannte Stimme aus den Gedanken. »Heute heißt es Abschied nehmen. Freust dich schon darauf, was? Ich habe dir eine Wohnung in Niedernhausen besorgt, ganz in der Nähe. Für den Fall, dass du Heimweh kriegst.« Kramer entging das Lächeln nicht, mit dem der Sprecher seine Bemerkung begleitete. Der Blick des Doktors fiel auf die vollgestopfte Reisetasche. »Wie ich sehe, hast du bereits gepackt. Gut, dann wollen wir keine Zeit verlieren, ich bring dich hin.«

Doch statt nach Niedernhausen zu fahren, ging es in die entgegengesetzte Richtung. In einem nahe gelegenen Dorf bog der Mercedes an einem Platz mit grüner Wassertränke und Hebelpumpe nach rechts. Die Straße verengte sich zu einem asphaltierten Weg. Nach hundertfünfzig Metern fuhr das Fahrzeug auf eine steile Einfahrt und hielt auf einem bekiesten Hof. Zwei Autos standen vor einem L-förmigen Gebäude geparkt.

»Wo sind wir hier?« Argwöhnisch beäugte Kramer das Schild, das neben dem Eingang an der Mauer befestigt war.

Der Doktor stieg aus, öffnete die Beifahrertür. »Steig aus, Rolf, ich will dich mit jemandem bekannt machen.«

Kramer verharrte auf dem Sitz. »Hier habe ich nichts verloren.« Er fühlte die Hand auf seiner Schulter.

»Das gehört zur Therapie, Rolf. Vertraue mir. Steig bitte aus.«

Die Augen, in die er blickte, duldeten keine Widerrede. Er gab nach, unterdrückte die aufkommende Wut und tat, was von ihm verlangt wurde.

 

 

8.  Im Schreibfluss

 

Max fand seinen Schreibrhythmus wieder. Nachdem er sich den Plot verinnerlicht hatte, schrieb er jeden Tag bis in die Nacht.

Der Plot handelte von einem Mann, der nach einer missglückten Gehirnoperation zum Serienmörder wird. Ein Bericht in einer Boulevardzeitung gibt der Polizei den entscheidenden Hinweis, den Mörder festzunehmen. Doch er kann aus der geschlossenen Anstalt fliehen, begibt sich auf einen Rachefeldzug gegen alle Personen, die ihm Unrecht angetan haben.

Es fiel ihm nicht schwer, Modrics Plot in eine spannende Geschichte umzusetzen. Der Verleger hatte ihm eine gute Basis geliefert, so viel musste er ihm lassen. Trotz des eng gesteckten Handlungsspielraums gewährte er ihm genügend gestalterische Freiheit. Das war wohl auch die Absicht gewesen. Sie beschreiben Mordanschläge so präzise, dass man als Leser das Gefühl bekommt, man verübe sie selbst.

Endlich jemand, der ihn als Schriftsteller anerkannte.

Aber würden Plot und Schreibstil für einen Bestseller reichen? »Lassen Sie das meine Sorge sein«, hörte er Modric sagen.

Dass er vom Verleger keine Korrekturvorschläge erhielt, wunderte ihn zwar, aber das konnte ihm ja egal sein. So konnte er wenigstens ungestört weiterschreiben. In diesem Tempo würde er das Manuskript innerhalb der Frist locker fertigstellen können.

Er schickte das soeben fertiggestellte Kapitel dem Verlag.

 

 

9.  Frühsport

 

Peter Reimann ging den kurzen Weg von seiner Wohnung zum Schlosspark Biebrich zu Fuß. Im Halbdunkel vor dem Sonnenaufgang sah er in einigen Hundert Metern Entfernung jemand aus einem Fahrzeug steigen. Ein Frühaufsteher, wie er selbst.

Er betrat den Schlosspark durch das Tor in der Bruchsteinmauer, die den Park umschloss, und überquerte das angrenzende Gelände der Gärtnerei. Er fühlte sich fit, heute wollte er zwei große Runden drehen. Vielleicht schaffte er sie sogar in unter einer Stunde.

Einen Moment lauschte er den ersten Rufen der Sittiche, die den Park bevölkerten. Dann zog er das Band der LED-Leuchte um die Stirn fest, drückte die Stoppuhrtaste an der Armbanduhr und lief los.

Gleich zu Beginn passte er die Atmung der Schrittfrequenz an: EIN zwei-drei-vier, AUS zwei-drei-vier.

Das Laufen befreite den Kopf. Es gab ihm die Gelegenheit, über gewisse Dinge nachzudenken, für die er während der Arbeit keine Zeit hatte. Die Lauschaktion vor einigen Wochen, als auf ihn geschossen worden war. Sein Informant hatte recht gehabt: Aus dem, was er vom Gespräch aufgenommen hatte, ging klar hervor, dass es sich um die Neuschaffung eines Manchurian Candidate handelte. Und um ein Programm, das sich Monarch nannte.

EIN zwei-drei-vier, AUS zwei-drei-vier.

Die erste Runde war geschafft. Als er an der Stelle vorbeirannte, wo er den Park betreten hatte, nahm er eine Bewegung im Gebüsch war. Duckte sich da jemand weg?

Eine optische Täuschung. Er rannte weiter. Die Zeit der Dämmerung war die Zeit der schleichenden Schatten.

Als er merkte, dass er langsamer lief, beschleunigte er seine Schritte.

EIN zwei-drei-vier, AUS zwei-drei-vier.

 

Er ließ das Nachtsichtfernglas sinken. Nahm das SAKO TRG-22 Präzisionsgewehr und richtete es auf den Jogger, der seine letzte Schleife vor der Rückseite des Biebricher Schlosses zog.

Wut stieg in ihm hoch.

In knapp zehn Minuten hätte der Jogger den Ausgang aus dem Schlosspark erreicht und seine Joggingrunde beendet.

Es würde seine letzte sein.

Er streckte sich auf den Boden aus und setzte den Gewehrlauf mit den ausgeklappten Stützen aufs Gras. Als er den Läufer im Zielfern- rohr auf sich zukommen sah, legte er den Zeige nger sanft an den Abzug und atmete langsam aus.

 

EIN zwei-drei-vier, AUS zwei-drei-vier.

Peter Reimann lief die letzten Meter locker aus und betätigte die Stoppuhr. Geschafft! Ein paar Minuten länger als eine Stunde für die Strecke. Er drückte ein zweites Mal und der rote Punkt des Sekundenzeigers sprang auf null.

Den roten Laserpunkt auf seiner Stirn bemerkte er nicht. Während die Feuerglut am Horizont den Tag ankündigte, durchschlug ein Geschoss Winchester Kaliber .308 mit über tausend Metern pro Sekunde seinen Schädel.

Ein Schwarm Sittiche flatterte schreiend aus den Bäumen. Peter Reimann hörte sie nicht mehr. Er war bereits tot, als er auf dem Boden aufschlug.

 

Er schraubte den Schalldämpfer von der Gewehrmündung ab, steckte die Waffe zurück in den Koffer und verließ den Schlosspark.

Der Erste war beseitigt.

Noch zwei.